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Hermann Lüthi – ein Berner Messerschmied mit Visionen

Die Beschäftigung mit der Frage, wer eigentlich der andere Firmengründer von “Zürcher, Lüthi & Cie, St. Aubin” war, wurde bisher in den meisten Werken über die Schweizer Motorradgeschichte vernachlässigt. Zu unrecht, denn der gelernte Messerschmied, erfolgreiche Unternehmer und begeisterte Velofahrer war ein Mann, der frühzeitig erkannt hatte, welche Chancen im aufkommenden Handel mit Fahrrädern und später in der Herstellung von Motorrädern, Automobilen und Zündkerzen steckte. Obwohl ihm der ganz grosse Erfolg nie vergönnt war, kannte jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts jeder Fahrzeugliebhaber die Zündkerze “Lüthi” und die Marke “Zedel”, besteht doch dieses Silbenkurzwort aus den beiden Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Firmengründer Ernst Zürcher und Hermann Lüthi. Dieser Artikel möchte Hermann Lüthi ins Rampenlicht rücken, da er bisher in fast allen Veröffentlichungen lange genug ein unverdientes Schattendasein gefristet hat. Dieser Artikel möchte Hermann Lüthi ins Rampenlicht rücken, da er bisher in fast allen Veröffentlichungen lange genug ein unverdientes Schattendasein gefristet hat.

Sait Aubin um 1900: Links hinter dem Motorrad, Hermann Lüthi - stehend hinter ihm, Fritz Moser - sitzend links von ihm, Ernest Zürcher (Quelle: Ernst Zürcher Archiv, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Familie Fardel)

Von Christian Amoser und Luis Saavedra

Ein neuartiges Velo um die Jahrhundertwende in Neuenburg

Eine kleine in dicken Mänteln geschmiegte Menschengruppe steht bei eisiger Kälte in der Rue du Seyon, der Hauptstrasse von Neuenburg, um ein neuartiges Velo und hört aufmerksam den Erläuterungen der beiden Erfinder zu. Es ist kurz vor Weihnachten im letzten Jahr eines ereignisreichen Jahrhunderts in der Geschichte der menschlichen Fortbewegung, gleichzeitig aber auch der Anfang einer neuen Ära, nämlich derjenigen des motorisierten Individualverkehrsmittels.

An diesem Freitag, 22. Dezember 1899 stellen zwei Berner ein paar wenigen Interessierten eine Maschine vor, die in den folgenden Jahren in der Pariser Motorradszene in aller Munde sein wird. Voller Bewunderung hören die wenigen Neugierigen den Erklärungen der zwei stadtbekannten Velo-Enthusiasten zu, welche die Vorzüge eines unscheinbaren, in der Nebel umhüllten Kleinstadt kaum erkennbares Fahrrad mit dem Hilfsmotor “System Lüthi & Zürcher” aufzählen. Doch plötzlich beginnt der erfolgreiche Velohändler, Hermann Lüthi, und sein Mechaniker, Ernst Zürcher, etliche Hebel an der Maschine zu betätigen. Sie sprechen angeregt miteinander, als ob es noch ein technisches Problem zu bewältigen gäbe, werden sich aber schnell einig, was als nächstes getan werden muss. Während Hermann Lüthi die Zuschauer auffordert, sich etwas vom Fahrzeug zu entfernen, denn gleich würden Explosionen zu hören sein, setzt sich der erfahrene Velofahrer Ernst Zürcher schwungvoll auf den Sattel und beginnt mit Bedacht regelmässig zu treten, bis ein leises, aber kraftvolles Töff, Töff, Töff … zu hören ist. Unter den erstaunten Anwesenden befindet sich auch ein kurzsichtiger Journalist des “Feuille d’Avis de Neuchâtel”, der sich am folgenden Tag darauf beschränkt, lediglich einen sehr bescheidenen Satz über dieses zukunftsträchtige Ereignis zu schreiben, das sich dann in kürzester Zeit als bahnbrechend erweisen sollte.

Keine drei Wochen später, am 13. Januar 1900 um 6.30 Uhr, erteilt das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum Hermann Lüthi und Ernest Zürcher ein Patent für ein “verbessertes Fahrrad mit Hilfsmotor” – damit hatten sie einen Vorsprung von einem Monat, 11 Tagen und einer Viertel Stunde auf die Gebrüder Dufaux mit ihrem Motosacoche (24.Februar 1900 um 6.45 Uhr).

Patent 1900
Zeichnung aus der Patentschrift für das “Bicyclette à moteur, perfectionnée

 

 

Das Fahrradgeschäft und die Freundschaft zweier “Vélocemen”

Die uns interessierende Geschichte beginnt jedoch etwas über eine Dekade früher. Der 20 jährige gelernte Messerschmied Hermann Lüthi konnte 1885 die Leitung des alteingesessenen Geschäfts “Coutellerie Jacot” in der Altstadt von Neuchâtel übernehmen. Der junge Mann überzeugte nicht nur die Inhaberin Madame Howald von seinen Fähigkeiten sondern auch deren Tochter Julie Sautter, die mit ihm im Frühjahr 1887 den Bund der Ehe einging. Herrmann war sowohl in der Werkstatt als auch am Ladentisch ein sehr tüchtiger und erfolgreicher Patron, dem es gelang, das Sortiment der Schneidwarenhandlung stetig zu erweitern.
Coutellerie
Postkarte der “Coutellerie H. Lüthi” in der Altstadt von Neuchâtel, um 1910

Es erstaunt deshalb auch nicht, dass er in seiner Leidenschaft, dem Bicycle-Sport, ein neues Geschäftsmodell sieht und 1889 das “Magasin de Vélocipèdes” gründet. Fünf Jahre später wird er sein Fahrradgeschäft in “Au cheval d’acier” – zu Deutsch “Zum Stahlross” – umbenennen.

Am Ende der 1880er Jahren hatten wohlhabende junge Männer zwei Möglichkeiten die Sehnsucht nach Mobilität und Schnelligkeit auszuleben. Traditionelle wählten das Pferd. Für moderne, technikaffine war jedoch klar das Bicycle die erste Wahl. In den 1870er Jahren brachte die englische Industrie leichte Vollmetall-Hochräder auf den Markt, danach überschlagen sich die Innovationen. Jährlich werden an der Stanley Cycle Show neue erfolgversprechende Konstruktionen aus der Region Coventry vorgestellt. Die eleganten Hochräder erwiesen sich auf den schlechten Strassen als zu unfallträchtig, weshalb fieberhaft an sicheren aber trotzdem schnellen Bicycles geforscht wurde. Im Jahre 1884 stellte John Kemp Starley seinen Rover vor, dessen Konzept zwei Jahre später in der 3. Version schliesslich den Durchbruch schaffte – ein einfacher, verspannter Kreuzrahmen mit in etwa gleich grossen Rädern und einem Kettenantrieb aufs Hinterrad.

Das Konzept dieses Sicherheits-Fahrrades, im Englischen “Safety Bicycle” genannt, überzeugte gleich mehrfach. Dank dem tiefen Schwerpunkt war einerseits die Gefahr der gefürchteten Kopfstürze gebannt, andererseits konnte nun zudem die Übersetzung individuell gewählt werden. Bei dem direkt angetriebenen Hochrädern definierte nämlich die Beinlänge des Fahrers die Übersetzung und somit auch die maximal erreichbare Geschwindigkeit. 

Quadrant
Lüthis erstes Inserat für den Fahrradladen. Der Setzer hatte irrtümlicherweise “Anadrant” statt “Quadrant” geschrieben, FAN 26.06.1890

Ende Juni 1890 schaltete Lüthi seine erste Annonce im “Feuille d’avis de Neuchâtel” (FAN). Die 1738 gegründete Zeitung wurde später in L’Express umbenannt und ist heute weltweit die älteste noch aktive Tageszeitung. Die im FAN erschienenen Anzeigen sind fast die einzigen Quellen für Lüthis “Magasin de Vélocipèdes”, sie zeigen uns aber ein durchaus scharfes Bild eines Fahrradgeschäfts am Ende des 19. Jahrhunderts. Auffallend war, dass Lüthi fast jährlich andere Marken bewarb. Anfänglich führte er ausschliesslich Englische Bicycles, später kamen Deutsche (Adler, Viktoria, Naumann, Opel) und Französische (Peugeot, Gladiator, Terrot) und am Schluss Amerikanische (Cleveland, Rambler) dazu. In all den Jahren findet man nur einmal einen Hinweis auf ein Velo aus Schweizer Produktion (Basilisk). In der besagten ersten Anzeige bezeichnete er sich als Agent für Quadrant und George Townsend & Co, aus der kurze Zeit später Royal Enfield hervorging. Später kamen weitere englische Marken wie Rudge, Humber, Hillman, Swift, Centaur, Rover, Premier dazu, um nur einige der Bekanntesten zu erwähnen. 

Undatiertes Cabinet-Foto von Ernest Zürcher in Siegerpose auf einem Quadrant No 17, ca. 1890. In dieser Zeit war Hermann Lüthi Agent für Quadrant in Neuchâtel (Quelle: Ernst Zürcher Archiv, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Familie Fardel)

Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war in vieler Hinsicht eine spannende Zeit. Dank Massenproduktion und rationalisierter Fertigung sanken auch die Preise für Fahrräder auf eine Preisspanne von 300 bis 450 Schweizerfranken, was in etwa einem halben Jahreseinkommen eines gelernten Facharbeiters entsprach. Technische Verbesserungen lösten sich in rascher Folge ab. Der Diamantrahmen etablierte sich. Ist doch diese einfache Rahmenkonstruktion auch heute noch in Bezug auf Stabilität und Gewicht das Optimum für Metall-Rahmen. In dieser Zeit setzte sich auch der heute noch übliche Lenkkopf mit Kugellagern durch, welcher die seit der Hochradzeit gebräuchliche Nackensteuerung ablöste. Die durchschlagende Neuerung war jedoch die Pneumatik, die 1888 von John Boyd Dunlop patentiert wurde. 1891 stellten die Gebrüder Michelin einen verbesserten, auch unterwegs reparaturfähigen Pneureifen vor. Der bekannte französische Rennfahrer Charles Terront gewann mit diesem im selben Jahr trotz Reifenpannen das 1200 km lange Rennen “Paris-Brest-Paris” und demonstrierte so gleichzeitig die Überlegenheit des Michelinreifens und den immensen Vorteil bezüglich des Rollwiderstandes gegenüber den Vollgummi- oder Hohlkammerreifen.

Terront
Charles Terront, der Gewinner des ersten “Paris-Brest-Paris” 1891 (Quelle: La Vie au grand air 18.08.1901; gallica.bnf.fr, Musée Air France)

Mitte der 90er Jahre inserierte Lüthi ein Velo der Marke Peugeot, ausgerüstet mit “caoutchoucs creux”, also mit Hohlkammerreifen, für 345 Franken. Für einen Aufpreis von lediglich 15% bekam der Käufer dasselbe Velo mit Pneumatik der französischen Marke Gallus.

À propos Peugeot – Lüthi lieferte sich mit dem Konkurrenten ab 1893 einen öffentlichen schlagabtausch im FAN, wer der legitime Markenvertreter sei. In einer öffentlichen Bekanntmachung berief sich Lüthi auf den Schweizer Importeur Badertscher aus Langnau, während sein Konkurrent Faure sich auf ein Gebietsschutz zwischen Grandson und Biel berief, den er direkt mit der Firma Peugeot Frères aus dem grenznahen Valentigney (F) ausgehandelt hatte. Beide verloren aber 1896 die Marke an einen weiteren Konkurrenten, der sich ab diesem Zeitpunkt stolz “seul representant de la grand Marque Peugeot” nennen durfte.

Lüthi hatte nach den Anfängen nur noch wenige Anzeigen für das laufende Geschäft geschaltet. Lediglich den Verkauf von Occasions-Velos bewarb er jeweils im Frühjahr und Ladenhüter im Herbst. Um die Klienten am Ende der Saison zum Kauf zu animieren, gab es neben einem guten Rabatt für Barzahlung noch eine Hupe und eine Laterne dazu. In den Annoncen betonte er, dass er eine grosse Auswahl an Accessoires anbietet und die Reparaturen prompt und sorgfältig ausführt. Gratis bot er Kataloge und auch Fahrunterricht an. In den 1890er Jahren konnten nämlich noch nicht alle potentiellen Kunden Rad fahren. 

 

Dem Technikinteressierten sticht eine Anzeige im FAN vom März 1897 besonders ins Auge. Die Ankündigung eines mit 8½ Kilogramm äusserst leichten Bicyclette mit Aluminiumrahmen. Zu dieser Zeit konnten dünnwandige Aluminiumrohre noch nicht geschweisst werden. Die Ingenieure versuchten deshalb verschiedene alternative Ansätze. Humber (GB) experimentierte mit geklemmten Steckverbindungen, dem Humber Brazeless und Lu-Mi-Num (GB/F) versuchte es andererseits mit gegossenen Rahmen, welche nachträglich ausgebohrt wurden. Am konventionellsten war der Versuch von Ruppaley (F) der gelötete Aluminiumrahmen anbot. Alles in allem scheiterten die Versuche und so blieb es auch bei Lüthi nur bei einer Ankündigung.

Aluminium
Werbeplakat für das äusserst leichte Fahrrad von Rupalley mit einem gelöteten Aluminiumrahmen (Quelle: Bibliothèque nationale de France)

Spätestens nach der Julirevolution in Paris 1830 bekamen die liberalen Kräfte in Europa starken Aufwind und erste Kantone in der schweizerischen Eidgenossenschaft erhielten demokratische Verfassungen. Der Kanton Neuchâtel konnte sich 1857 mit Hilfe der Eidgenossenschaft vollständig vom König von Preussen trennen. Parallel dazu forderten auch Frauen einen besseren Platz in der Gesellschaft.

Amelie et Lisette
Zwei Stars der Frauen-Rennszene in Frankreich in der typischen Radbekleidung um 1896. Amélie Le Gall, die Rennen unter dem Pseudonym Lisette fuhr, und Gabrielle Etéogella auf Fahrrädern der Marke Gladiator mit der markanten Hebelkette von Simpson (Quelle: Collection Jules Beau; gallica.bnf.fr, Bibliothèque nationale de France)

Das Fahrrad übte nicht nur auf Männer eine grosse Faszination aus. Die Frauen hatten jedoch einen grossen Nachteil, da sie zuerst noch fahrradtaugliche Kleidung erfinden und in der Gesellschaft etablieren mussten. Im englischen Sprachraum nannte man die fahrradtaugliche Bekleidung “the rational Dress” – das vernünftige Kleid. Das Fahrrad war nicht der Auslöser, aber sicher ein wichtiger Beschleuniger der Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts.

Die gesellschaftlichen Veränderungen in Europa waren auch Hermann Lüthi nicht entgangen. Ab Frühjahr 1897 bewarb er aktiv eine neue Käuferschicht “Les plus belles bicyclettes pour dames se trouve chez H.Luthi – Prix modiques” “Die schönsten Velos für Damen finden sie bei H. Lüthi – günstiger Preis”. Ab diesem Zeitpunkt illustriert er viele seiner Anzeigen im FAN mit einer graziösen Radfahrerin.

Bicyclettes pour dames
Lüthi bewirbt ab 1897 Frauen als neue Käuferschicht, FAN 01.04.1897

Der junge tüchtige Kaufmann suchte und fand auch auch einen Platz in der Gesellschaft von Neuchâtel. Er war sowohl Mitglied des Schützen- als auch des Blumenzüchtervereins, wo er die Qualität der Gartenwerkzeuge der Coutellerie Jacot zur Schau stellen konnte. Die gleichgesinnten Vélocipédisten traf er im Vélo-Club de Neuchâtel, der am 18. März 1890 rekonstituiert wurde. Ob er der Initiant der Neugründung war ist unklar, es ist jedoch überliefert, dass er im Jahre 1893 der Präsident des Vereins war.

Schon früh lernte er Ernest Zürcher kennen. Der gleichaltrige Vélocemen, wie sich damals die Radfahrer in der Romandie selbstbewusst nannten, wuchs im Mattequartier in Bern auf und absolvierte in der Fabrique de Telegraph (FAVAG) in Neucâtel eine fundierte Ausbildung zum Telegrafenmechaniker. Er erfand einen Verkaufsautomaten für Karamells und Schokolade, der an vielen Bahnhöfen aufgestellt wurde. Ende der 1880er Jahre verbrachte er einige Zeit in Deutschland und Italien, um seine Fähigkeiten zu perfektionieren.

Die Mitglieder des  Vélo Club verband eine enge Freundschaft, so baten sie die werten Herren Mitglieder am 12. August 1891 in einem Inserat im FAN am Trauerzug des verstorbenen Jean Zurcher, dem Vater ihres Kollegen Ernest Zurcher, teilzunehmen.

Ernest machte sich 1897 als Mechaniker selbstständig und bezog ein Atelier an der der Rue du Parcs 117 in Neuchâtel. Der genaue Tätigkeitsbereich der neugegründeten Firma ist nicht dokumentiert. Belegt ist jedoch, dass Zürcher in dieser Zeit zwei Dampfmaschinen gebaut hatte. Eine wurde später ans physikalische Institut der Uni Neuchatel gespendet und eine kleine voll funktionsfähige Dampflokomotive fand seinen Weg in die Sammlung des Musée des Art et Métiers, dem Kunst- und Gewerbemuseum in Paris.

Usine mecanique
Ankündigung der Mechanischen Werkstatt von Ernest Zürcher, FAN 16.06.1897

Seine erste Werbeanzeige im FAN schaltete er am 15. Juni 1897 und bot seine Fähigkeiten für mechanische Konstruktionen aller Art, Feinmechanik und diverse Reparaturen an. Er versprach promptes und sorgfältiges Arbeiten, was wir ihm gerne glauben. Bemerkenswert an diesem Inserat sind zwei Punkte. Zürcher hatte zu dieser Zeit  bereits einen Telefonanschluss, was aber bei seinem Beruf nicht besonders erstaunt. Interessant für den weiteren Verlauf der Geschichte ist die Fusszeile “Dépôt chez H. Luthi, Rue du Temple-Neuf”, welche die erste kommerzielle Verbindung zwischen Hermann Lüthi und Ernest Zürcher dokumentiert.

Der erste “Salon de l’Automobile” in Paris, 1898

Mindestens zwei der 140’000 Besucher des ersten Automobilsalons der Weltgeschichte reisten von Neuenburg an, besass doch diese moderne Schweizer Stadt zu dieser Zeit bereits eine direkte Zugverbindung mit Frankreich. So konnten die beiden Schweizer Pioniere des Motorenbaus im Sommer 1898 gemütlich mit der Bahn bis nach Paris fahren. Dort erhielten sie dann gegen einen Francs Eintrittsgeld Einlass in den Garten der Tuillerien, wo alles was in der Motorenwelt Rang und Namen hatte, einen Stand führte und die neuesten Errungenschaften der Automobilindustrie präsentierte. An dieser Ausstellung konnten die zwei Schweizer  in aller Ruhe die neuesten Automobilmodelle studieren, Kontakte knüpfen, sich über modernstes Zubehör informieren und natürlich den aktuellsten Tratsch aus Paris vernehmen. Was die 33-jährigen Hermann Lüthi und Ernest Zürcher in Paris erlebten und welche Entscheidungen sie dort trafen, erfahren wir ein Halbes Jahr später anlässlich eines Berichts im Feuille d’Avis de Neuchâtel vom 9. Februar 1899: die Gründung einer Automobilfabrik.

Salon Paris
Plakat der ersten Automobilausstellung von 1898 in Paris (Wikipedia)

Zuerst wollten sie ein Dreirad-Automobil mit zwei Plätzen produzieren, haben es sich dann aber doch anders überlegt, und sich für einen luxuriösen Vierplätzer Phaeton entschieden. So stellten sich die zwei zukünftigen Automobilhersteller ihre Motorkutsche vor: “… mit einem selbst entwickelten 7 PS Motor mit verschiedenen Gängen sowie Rückwärtsgang … die Explosionen werden von elektrischen Funken entzündet … ein ausgeklügeltes Wassersystem wird den Motor vor Überhitzung schützen … Bremsen werden dem Automobil ermöglichen, im Bedarfsfall ohne Verzögerung den Stillstand zu erzwingen.”

Dazu wird es aber nie kommen, stattdessen werden die beiden begeisterten Automobilisten eine Motorenfabrik gründen. Waren sich der Unternehmer Hermann Lüthi und der Motorenbauer Ernest Zürcher gar uneinig oder waren die finanziellen Mittel für eine vollumfängliche Automobilproduktion einfach zu knapp? Fest steht  jedoch, dass die ersten Motorgehäuse für ihre neuartige Maschine bereits 1899 von niemand anderem als vom Schweizer Vorreiter der Aluminiumtechnologie, Alfred Gautschi, gegossen wurden,  als seine Werkstatt noch in Fleurier, Val de Travers – eine der ersten Industriezonen der Schweiz – war. 

 

Der Hilfsmotor für Fahrräder “System Lüthi & Zürcher”

Am Ende des 19. Jahrhunderts träumten die beiden Erfinder noch von einer Automobilfabrik; im Besonderen sah sich wohl Lüthi gerne als Automobil-Baron, während Zürcher sein Augenmerk eher auf den Motorenbau richtete. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mussten sie jedoch ihre Erwartungen etwas zurückschrauben. Anstelle eines modernen und luxuriösen Phaetons wird ein Hilfsmotor für Fahrräder entwickelt. Lüthi musste wohl oder übel seine grossen Visionen neu überdenken und sich mit der Produktion eines viel kleineren und einfacheren Fahrzeugs begnügen. Zürcher hingegen konnte seine Begabung im Motorenbau voll ausleben. Es gelang ihnen der grosse Wurf. Sie hatten nicht nur einen Motor entwickelt, sondern ein durchdachtes Konzept: das sogenannte “System Lüthi & Zürcher”.

System Pecourt
Das System Lüthi & Zürcher wie es in Paris von Pécourt als Baukasten angeboten wurde (Quelle: La Locomotion)

 

Dieses kompakte System im Baukastenprinzip bestand aus einem kleinen Fahrrad-Hilfsmotor mit sogenanntem Schnüffelventil auf der Einlassseite, das sich durch den im Zylinder entstehenden Unterdruck automatisch öffnet. Die ersten Modelle hatten noch einen höchst unzuverlässigen Oberflächenvergaser, der den grossen Nachteil besass, genau immer dann mehr Kraftstoffgemisch in den Brennraum zu befördern, dadurch also das Gefährt zu beschleunigen, wenn die Fahrbahn am holprigsten und daher am gefährlichsten war. Damit das Benzin im Kraftstoffbehälter gut verdampfen konnte, auch wenn das Motorrad nicht durchgeschüttelt wurde, diente der Schalldämpfer gleichzeitig auch als Heizung, denn er war direkt unter dem Tank angebracht. Der Akkumulator von Dinin in Paris war in einem Fach neben dem Benzintank versorgt und die Zündspule oder, wie man sie damals nannte, der Induktionsapparat am Sattelrohr oder neben dem Auspuff unter dem Kraftstoffbehälter befestigt.

erste Anzeige auf der Titelseite des FAN vom 27. April 1900
Corrado Frera
Corrado Frera bot um 1901 bereits ein NSU Velo “Pfeil” mit dem bewährten Motor von Zürcher und Lüthi (Quelle: TCI)

Auszug aus dem Verkaufsprospekt von 1901

Pferdekraft: 1 ¼, 1 ½  oder 1 ¾ 

Hubraum: ca. 230 cm3

Drehzahl: 1500 U/min

Höchstgeschwindigkeit: 35 km/h mit Oberflächenvergaser und 50 km/h mit Spritzvergaser (über 60 km/h als Rennmaschine)

Steigfähigkeit: bis zu 8%

Reichweite des Benzintanks: 40 – 50 km

Reichweite des Zündungssystems: 2500-3000 km

Kraftstoff: 680 – 700° Benzin

Gewicht: ca. 35 kg

Verkaufspreis des Systems ohne Fahrrad in Schweizer Franken: Fr. 500.– plus Fr. 20.– für die Montage.

In Frankreich sicherte sich Pécourt bereits 1900 das alleinige Verkaufsrecht für das System Lüthi & Zürcher. Schon im Januar 1901 warb er in den Pariser Sport-Tageszeitungen für ein Motocyclette “La Victoire”, sowie für einen “neuen, patentgeschützten Motor für Fahrräder – der einzige Motor, der in alle Fahrradtypen eingebaut werden kann” –  heute würde man “plug and play” sagen. Der Erfolg war sehr gross. Bald klopften namhafte Firmen, wie Peugeot, Griffon und Cotterau an der Tür seines Geschäfts in der rue Brunel 33 im 17° Arrondisment in der Nähe des damals neuen und aufsehenerregenden Eiffelturms.

eine der ersten Anzeigen im L’Auto-Velo, Paris vom 1. Juni 1901 für das Motorrad “La Victoire”

Auch in der Rennszene machte sich das Motorrad von Pécourt einen Namen. Vor allem war es das Ehepaar Jolivet, das von sich reden machte. Beide gehörten zum Rennstall von Pécourt und hatten eigene Rennmaschinen: Jolivet I und Jolivet II. Aber die Presse und vor allem die Fotografen konnten die Augen nicht von Frau Jolivet lassen.

Jolivet
Mme Jolivet an der Kilometerfahrt von Deauville vom 26. August 1902 auf einer Pécourt mit Spritzvergaser: 1 km in 58 Sekunden, sie fuhr die neuntschnellste Zeit (Quelle: Collection Jules Beau)

Der Einbaumotor “System Lüthi & Zürcher” entpuppte sich schnell zu einem internationalen Verkaufsschlager. Der leichte aber standfeste kleine Hilfsmotor ermöglichte am Anfang des neuen Jahrhunderts vielen Veloherstellern den Einstieg in die Motorradproduktion:  unter anderen Peugeot, NSU, Frera und BSA. Der junge Belgier, Sylvain de Jong, erwarb um 1901 eine Lizenz für die Produktion von diesen mittlerweile vor allem in Frankreich sehr bekannten Motoren, stellte selber komplette mit diesem System ausgestattete Motorräder her und belieferte ganz England mit in Lizenz gebauten Fahrradhilfsmotoren, die unter dem Markennamen “Minerva” vor allem in Grossbritannien einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten.

Nicht nur die kleine Fabrik in St. Aubin lief auf Hochtouren, um der weltweiten Nachfrage nach “System Lüthi & Zürcher” Motoren nachzukommen, sondern auch der Schweizer Aluminium-Papst, Alfred Gautschi, wurde demzufolge mit Aufträgen überflutet, sodass er bereits 1903 in Gontenschwil ein neues, grösseres Werk eröffnen musste, das später nach Menziken verlegt wurde und heute noch in der Aluminiumbranche tätig ist.

Am 8. Januar 1901 wurde schliesslich in St. Aubin eine Kommanditgesellschaft gegründet: Zürcher, Lüthi & Co. Der Name Zürcher steht plötzlich vor Lüthi. Hatte Ernst Zürcher das Ruder übernommen? Wenn man nun berücksichtigt, dass das nötige Kapital vom “Financier” Dr. Nicolas eingebracht wurde,  muss man sich fragen, welche Aufgaben blieben eigentlich dem womöglich enttäuschten Hermann Lüthi  in diesem Unternehmen noch übrig?  Sicher ist, dass an der Generalversammlung vom  24. März 1902 nach nur 14 Monaten die Auflösung der Firma “Zürcher, Lüthi et Cie.” beschlossen wurde. Hermann Lüthi trennte sich von Zürchers Motoren und ging seinen eigenen Weg. Die Fabrik in St. Aubin wurde von der neuen am 2. April 1902 gegründeten “Fabrique de moteurs et de machines (ancienne maison Zürcher, Lüthi et Cie.) weitergeführt. Am 26. Mai 1902 werden dann auch die Markennamen “ZEDEL” und “ZL” eingetragen.

Briefkopf
Briefkopf der Nachfolgefirma von “Zürcher, Lüthi & Cie” (Quelle: Luis Saavedra)




Zündkerzen

Bougie Luthi
Werbung der “Agence de la Bougie Luthi”, Paris um 1905 (Quelle: L’Auto)

Hermann Lüthi wandte sich im April 1902 wieder seiner Coutellerie Jacot zu, liquidierte den restlichen Velobestand und erwarb ein Zündkerzenpatent von Rudolf Egg, dem bekannten Zürcher Automobilpionier, der während des Ersten Weltkriegs mit Fritz Moser eine Voiturette mit einem 4-Zylinder-Motor von E. Zürcher entwickelte.

Zur selben Zeit erfand Gottlob Honold in den Werkstätten von Bosch in Bad Cannstatt bei Stuttgart die Hochspannungs-Magnetzündung. Die Elektroden der bisherigen Zündkerzen konnten den höheren Temperaturen und der höheren Verdichtung, die dieses neuartige Zündungssystem ermöglichte, nicht standhalten und zerschmolzen wortwörtlich im Brennraum des Motors.

Die Elektroden der Zündkerze, die Lüthi von der Firma Ed. Dubied, in Couvet, Val de Travers, herstellen liess, waren aus purem Nickel und sehr hitzebeständig. Grosser Erfolg war diesen neuartigen Zündkerzen besonders in Paris, im damaligen Epizentrum der Automobilindustrie, beschieden. Jeder Chauffeur, Automobilist und Motorradfahrer kannte die “Bougie Luthi”. Bald kamen auch die ersten Rennerfolge (Lumberjack auf einem Griffon Motorrad) im November 1902. Da diese Zündkerze in Frankreich immer beliebter wurde, gewann auch die “Agence de la Bougie Luthi” in Paris an Bedeutung und trug den Namen Luthi in die ganze Welt hinaus – von ganz Europa über New York bis nach Sydney.

Hanb
berühmte Werbung für die Bougie Luthi aus Paris, 1905 (Quelle: L’Auto)

Als dann Rudolf Egg seine ursprüngliche Erfindung verbesserte und eine völlig neue Zündkerze entwickelte, die der ersten “Bougie Luthi” überlegen war, behielt er diesmal das Patent für sich. August Vogel, der Direktor der “Agence de la Bougie Luthi” und Inhaber des Markenrechts für die “Bougie Luthi” wurde Lizenznehmer. Zum grossen Ärgernis von Hermann Luthi, erdreistete sich Vogel, die neue Zündkerze unter dem Namen “Nouvelle Bougie Luthi”  herzustellen und zu vermarkten.

Hermann Lüthi musste mit Entsetzen feststellen, dass die  Verkaufszahlen seiner in der Schweiz hergestellten Zündkerze einbrachen und die neue Zündkerze von Rudolf Egg, die aber unter seinem Namen vertrieben wurde, alle Verkaufsrekorde brach und weltweit zu den besten und meistverkauften Zündkerzen gehörte. Hermann Lüthi kassierte keinen einzigen roten Rappen an Lizenzgebühren für die neue “Bougie Luthi”.

Der hintergangene Geschäftsmann blieb aber nicht untätig. Ein Jahr später, im Sommer 1904, erlangte er wiederum ein Patent für eine neue Zündkerze.

Die Kompression der neuen Motoren stieg damals beständig, sodass die Pariser  “Bougie Luthi” langsam aber sicher an ihre Grenzen gelangte. Deren Porzellan-Isolator hatte eine zylindrische Form und wurde im ebenfalls zylindrischen Kerzengehäuse mit einem Asbest-Ring gesichert. Mit der Zeit verschlechterte sich der Zustand dieser Dichtung aufgrund der hohen Temperaturen und der immer höher werdenden Kompression, weshalb die Kerze undicht wurde und der Motor dadurch an Leistung einbüsste. Obwohl die Bougie zerlegt werden konnte, war es für die damaligen Chauffeure doch umständlich in regelmässigen Abständen die Zündkerze zu reinigen und die Asbestteile auszuwechseln.

Die neue Zündkerze von Lüthi hatte einen konischen Isolator in einem gegen-konischen Kerzengehäuse. Der durch die neueren Motoren verursachte höhere Druck auf den Isolator wirkte sich nun positiv auf die Funktionsweise der Kerze aus. Durch die hohe Kompression wurden die beiden Teile zusammengepresst: Die Kerze war immer dicht! Die Elektrode war natürlich auch aus purem Nickel und der Isolator aus Steatit, denn man nahm damals an, das dieses Gestein widerstandsfähiger sei als Porzellan.

Veritas Libertas
Werbung für die in Neuenburg hergestellte, neue Zündkerze von Hermann Lüthi (Quelle: L’Auto, 1905)

1905 kam es in Frankreich zum grossen Markenstreit. Die “Bougie Luthi” in Paris und die “Bougie Luthi” in Neuenburg warben in denselben Tageszeitungen mit demselben Namen für zwei unterschiedliche Zündkerzen. Die “Bougie Luthi” in Neuenburg zog den Kürzeren und musste ihre Zündkerze umbenennen.

Ab 1907 gehen die Verkaufszahlen der französischen “Bougie Luthi” stetig zurück, während die Schweizer Zündkerze von Hermann Lüthi unter den Namen “Presta, EDCO und Lüthi Libertas” den Siegeszug antrat und ganz Europa zu Wasser, zu Lande und in der Luft eroberte.

Zu Beginn des ersten Weltkriegs wird die Produktion der Zündkerze endgültig eingestellt. Lüthi erkrankt an einer schweren Nephritis (Nierenkrankheit) und stirbt am 9. Januar 1918 im Alter von 53 Jahren in seiner Wohnung in Neuenburg.

3 commentaires sur “Hermann Lüthi – ein Berner Messerschmied mit Visionen”

  1. Sehr interessanter Beitrag,
    besonders für mich als Erarbeiter der NSU-Historie und Dokumentation in diversen Büchern. Das hier ist genau der Anfang der NSU-Motorräder um 1900/1901.
    Würde mich über einen direkten Kontakt freuen.
    Gesundes Neues Jahr
    Klaus Arth

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